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Bom dia,
Santa Marta!
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Der Treffpunkt ist ein kleiner, ovaler Platz mit großen, Schatten spendenden Bäumen und bunten Spielgeräten. Hier treffen wir unseren ersten Kontakt aus Santa Marta. Als Touristen werden wir die ersten Schritte in die Favela tun. Unser freundlicher Guide begrüßt uns per Handschlag und führt uns an eine große Infotafel. Auf etwa zwei Metern Höhe erstreckt sich eine Luftaufnahme der Favela: viele verschachtelte Häuser, unterbrochen von nur wenigen freien Flächen. Die 'Comunidade', wie sie auch genannt wird, ist am Hang eines steilen Bergs gelegen. Viele bunte Häuser blicken uns entgegen, rechts und links von dickem Urwald umsäumt. Ein kurzer Überblick, ein paar Zahlen und wir steigen hinauf.
Die asphaltierte Straße führt vorbei an mehrstöckigen Häusern zu einem der Eingänge Santa Martas. Es herrscht reges Treiben auf der Straße: Obsthändler, Passanten, Motorradfahrer. Immer wieder nickt und winkt unser Guide: »Bom dia!« - viele scheinen ihn zu kennen. Er ist ein 'local Guide' und lebt seit über 35 Jahren in Santa Marta. Seit einigen Jahren nun arbeitet er hier in der Favela und auch außerhalb als Touristen Guide. Stolz zeigt er uns seinen Ausweis des Tourismusministeriums.
Es ist erst 9 Uhr morgens und überall sind Menschen: verschlafene Kinder in Schuluniform, Männer und Frauen in Arbeitskleidung, ältere Frauen mit Einkaufstüten. Wir schreiten durch eine Alltagsszene und passen sichtlich nicht in die Kulisse. Auch wenn wir hier fremd sind, habe ich das Gefühl erkannt zu werden. Man enttarnt uns als solche, die die Favela besuchen, obgleich wir uns Mühe gegeben haben ohne Kamera und die übliche Cliché Ausrüstung so wenig wie möglich aufzufallen. Die Rolle als 'begleitete', konsumierende Touristin passt mir nicht. Sie ist wie ein geliehenes Kleid, das zwickt und nach jemand anderem riecht.
Wir gehen zur Liftstation und warten hier mit einigen Bewohnern auf den kleinen, metallernen Wagon, der uns einen mühelosen Anstieg auf den höchsten Punkt der Favela ermöglicht. Auf der 5. Station angekommen empfängt uns ein wunderschöner Ausblick auf Rio de Janeiro. Unter uns erstreckt sich ein Häusermeer, am Horizont die Strände von Copacabana und Ipanema. Über uns steht stolz und mit offenen Armen schützend die Cristo Statue des Corcovado. Von hier aus ist deutlich zu sehen wie eine Naht entlang der Favela und der 'formellen Stadt' läuft - beide deutlich voneinander trennt. Die wirren, verspielten Gassen Santa Martas prallen abrupt auf die klaren Linien der 'formellen' Stadt.
Hier beginnen wir den Abstieg, vorbei an einem Fußballfeld, dekorierten Wänden und kleinen Geschäften gehen wir viele Stufen hinab. Die Gassen sind eng aber gut gepflastert. Dennoch sind unsere Schritte unsicherer als die routinierten Bewegungen unseres Begleiters. Aus Küchenfenstern strömt Knoblauchgeruch, in der Morgensonne liegen friedlich schlafende Hunde, hier und da ertönt Musik. In diese Stimmung mischen sich viele umherschwirrende Fliegen und ein penetrant-säuerlicher Geruch. »Achtet auf den Hundedreck«, warnt unser Guide immer wieder. Auf unserem Weg durch die Sehenswürdigkeiten der Favela begegnen wir immer wieder Bewohnern. Manche blicken freundlich-neugierig, andere eher gleichgültig. Ich bemühe mich sie zu grüßen, so als würde mich mein »Bom dia« von einem leisen Schuldgefühl befreien. Was tue ich hier? Was habe ich hier zu suchen?
Nach 788 Stufen, am Fuße der Favela angelangt haftet das Gefühl an mir ein Eindringling zu sein - ganz so als wären wir durch fremderleuts Vorgärten gestiegen. Doch unser geduldiger und aufgeweckter Guide nimmt uns dieses Gefühl immer wieder für einige Momente: »Hier im 'Morro' ist es wie in der 'Gesellschaft': es gibt Leute denen geht es besser, andere leiden Hunger und Not.«
Mein Blick streift immer wieder den bunten Hang hinauf - ein Ort, wo dicht an dicht so viele Perspektiven zusammenleben. Ob wir es schaffen ihnen näher zu kommen?
Hundeleben?
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Noch habe ich meine Ruhe und der Platz gehört mir. Diese Stunde ist meine liebste: die Morgensonne scheint auf den King of Pop - gerade so, dass sie mich zu seinen Füßen erwärmt. Wenn der Tag so beginnt, wird es ein guter Tag.
Michael glitzert fast so wie bei seinem Besuch vor 20 Jahren - ein unvergesslicher Tag: überall Menschen, Sicherheitsleute, Hubschrauber, Kameras... durch die ganze Favela ist er getanzt. Ich war damals noch ein junger Hüpfer und muss ihm aufgefallen sein. Das glaube ich ganz fest. Wieder und wieder haben sie die Szenen für seinen Videoclip auf dem Platz gefilmt. Und ich war ganz nah dran... Aber da kommen schon die ersten Störenfriede. Im Grunde sind sie zwei sympathische Kerlchen, wenn ihre aggressive Art nur nicht wäre. Nicht jeder ist ihnen hier willkommen. Können sie jemanden nicht riechen, wird er glatt verscheucht. Recht so! Wären sie nicht so mürrisch, würden alle hier das Sonnenplätzchen genießen wollen. Das versteht aber nur, wer schon lange hier lebt.
Geräusche aus dem Souvenir-Shop auf der Ecke. Ein klares Zeichen: Meine kostbare Zeit mit Michael allein ist vorbei. Gleich kommen die ersten Besucher. Die Frau vom Souvenir-Shop ist etwas nervös aber ganz nett, gestreichelt hat sie mich auch schon mal. Schon riecht es nach Kaffee - damit ködert sie gern ihre Kunden. Leider ist sie nicht oft erfolgreich. Die T-Shirts auf der Stange, die sie gerade in meine Richtung hängt, riechen etwas moderig, als hätten sie lange im Schrank gelegen. Vielleicht hat sie heute mehr Erfolg bei den Touristen.
Alle kommen hier vorbei. Die meisten von ihnen stöhnen nicht über den Dreck, den wir (angeblich) überall hinterlassen, sondern freuen sich über die tolle Aussicht, machen Fotos mit Michael und haben die ein oder andere liebevolle Geste für mich übrig. Etwas ungemütlicher, aber nicht weniger spannend sind die Jungs und Mädels von der UPP*, die hier seit ein paar Jahren täglich herumstehen. Sie riechen oft etwas streng, nach Gummi und irgendwie angespannt. Sogar die Touristen scheinen das zu merken - denn sie beachten sie kaum. Die Polizisten kommen nie allein, immer zu zweit oder zu dritt, tragen dunkle Kleidung und dicke noch dazu. Deshalb sind sie keine Konkurrenz für mich auf meinem Sonnenplätzchen. Ein Glück! Sonst hätte ich keine Chance - so scharf, wie die bewaffnet sind.
Das Beste hier am Michael-Jackson-Platz ist, dass ich es nicht weit habe zum Paradies. So nennen wir den offenen Abwasserkanal unterhalb des Platzes. Hier rinnen den lieben langen Tag lang Wasser und schmackhaftes Essen entlang. Da ich einer der ältesten hier bin habe ich Vortritt und angele mir um die Mittagsstunde die saftigsten Stücke. Zu dieser Zeit kommen auch die Kinder auf den Platz. Unermüdlich kreisen sie mit ihrem Fahrrad um Michael herum. Weil es mit meiner Ruhe dann ohnehin vorbei ist, gehe ich naschen und finde Feinstes im Rinnsaal - wohl aus den Küchen oberhalb des Platzes. Es ist ein Fest, und bis auf den ein oder anderen Konflikt mit den Katzen, die hier im Paradies auch ihr Glück suchen, ist mein Leben sehr komfortabel. Es gibt keine unberechenbaren Autos, keine Schimpfenden, wenn einmal lauter gebellt wird, keine Menschen die mein Geschäft peinlicherweise in ein Plastiktütchen verpacken. Auf Spaziergänge oder Essenszeiten muss ich auch nicht warten. Ich schlafe unter freiem Himmel und wache über Michael. Seit er uns besucht hat, verbringe ich fast den ganzen Tag hier auf dem Platz. Die grauen Haare in meinem Hundebart mehren sich und in all den Jahren bin ich kaum von seiner Seite gewichen.
Jetzt höre ich eine Fahrradklingel, auch das Rauschen im Kanal wird lauter - ich sollte wirklich los - das Paradies ruft.
*UPP - Unidade de Polícia Pacificadora
Santa Marta
20.04.2015
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